Meldung vom 27.07.2023
WAS DER BUTLER SAH
Man ist nie ganz allein …
Und nicht weit entfernt, eine leichte Bewegung, kaum wahrnehmbare Augen und Ohren.
Denn es gibt noch eine andere Welt. Die Welt der Dienerschaft im Untergeschoss.
Eine Szene stolzer Lebendigkeit. (Im Gegenzug zur professionellen Idylle im Obergeschoss.)
Wo jede Bewegung wie ein Uhrwerk läuft.
Mit allen logistischen Fähigkeiten einer kleinen Armee.
Aber mit einer einzigen Mission, für Frieden und Harmonie zu sorgen.
Jeder unverzichtbare Charakter ist so unaufhaltsam wie ein General, so gerissen wie ein Spion oder so sanft wie Florence Nightingale.
DER ALLWISSENDE MR THOMPSON
– Oder die Kunst des Spionierens –
Ein flüchtiger Schatten – aber zuverlässig wie die alte Standuhr; Thompson ist ein Virtuose in der Kunst des Spionierens oder der diskreten Beobachtung, wie er es nennt. Auf dem Laufenden zu bleiben ist der Kern seiner Aufgabe: Er liest die Familiendramen und Enttäuschungen, wie ein Schäfer die Zeichen am Himmel …
Mit einem sechsten Sinn für Indiskretion spürt er die Dissonanzen, noch bevor etwas geschieht. Sein Motto: Vorausschau ist immer besser als Eile.
Wie Besucher aus dem Ausland zu ihrer Verwunderung feststellen, ist die britische Aristokratie nicht für ihre offene Konversation bekannt, und oft steht es da, das einsame Wesen, der Elefant im Raum. Thompson muss intuitiv spüren, vorhersehen oder ignorieren – ein Meister der Entschlüsselung von gesellschaftlichen Codes. Ohne ihn würde alles zerfallen.
„Sie sehen, einige der Wände sind furchtbar dünn.“
DAS 1x1 DES PERFEKTEN BUTLERS
Unauffällig in Sichtweite oder sichtbar unsichtbar – das ist das Ziel. Seien Sie unvergesslich, aber nicht wegen eines speziellen Grunds.
Bewegen Sie sich nur, wenn Sie nicht unter Beobachtung stehen. Denken Sie immer daran: Stoisch und statisch passen gut zusammen.
Ein neutrales Auftreten lässt Ihnen alle Türen offen. Zeigen Sie niemals Freude, Verwunderung und gewiss nicht Begeisterung.
Sprechen Sie nur, wenn Sie angesprochen werden, und machen Sie Ihre Meinung so vergesslich, wie den Pöbel – „das gemeine Volk“.
Einen Brief zu tragen, ist wie einen Schlüssel zu besitzen. Ein Grund, dort zu sein, wo Sie sind.
Informationen sind Macht. Sammeln, behalten, tauschen.
Betrachten Sie es nicht per se als Erpressung, eher als einen potenziellen gut geplanten Versprecher … Hören Sie genau zu, und Ihnen wird nichts entgehen.
DIES IST DIE GESCHICHTE EINES BARBIERS AUS CORNWALL*
der nach London reiste und sein Geschäft in der Straße mit den herausragendsten Schneidern der Stadt eröffnete. Der zum königlichen Hoflieferanten ernannt wurde und dem Schah von Persien den Bart stutzte. Zu einer Zeit, in der die eigene Schönheitstoilette mit tiefem Ernst begangenen wurde und das Dasein eines Gentlemans mit hohem Aufwand verbunden war.
Zu jener Zeit regierte Queen Victoria, Antiseptika kamen zum ersten Mal zum Einsatz – und Knöchel hatten noch etwas Aufreizendes. Diese Geschichte spielt in dem Jahrzehnt nach der Ermordung von Abraham Lincoln, der Eröffnung des Suezkanals und der Gründung der Londoner Feuerwehr. Zur gleichen Zeit erschienen Charles Dickens Roman „Große Erwartungen“, „Alice im Wunderland“, „Krieg und Frieden“ und „Das Kapital“.
Man schreibt das Jahr 1870. Erbe, Empire und Portraitmalerei sind an der Tagesordnung. Die meiste Zeit jedenfalls.
DAS ALLES ENTSPRICHT DER WAHRHEIT.
* Die Rede ist von William Penhaligon.
ETWA ZUR GLEICHEN ZEIT –
obwohl niemand so genau weiß, wann, vielleicht auch besser so – irgendwo in den sanften Hügeln der englischen Landschaft, umringt von majestätischen Eichen, erstrahlt langsam die Morgensonne über einem herrschaftlichen Landsitz, dessen Grundmauern auf die Zeiten von Wilhelm dem Eroberer zurückgehen, so erzählt man es sich zumindest.
Noch frei von der Last der Politik und des Krieges, widmen sich zwei oder auch drei Hausangestellte unermüdlich ihren Aufgaben: Bäder einlassen, Vorgänge aufziehen, Kaminfeuer anzünden und Teppiche ausklopfen, um das erste Familientreffen des Tages vorzubereiten. An Opulenz, Detailliebe und Vorbereitung steht das Frühstück den anderen Mahlzeiten des Tages nichts nach. Doch die Zeit ab dem Morgengrauen ist denkbar knapp – und die Spannung ist groß.
Vielleicht erklärt das auch die überschwängliche Freude, mit der sich Lord George und seine Familie am Morgen begrüßen. Das große Vergnügen des ersten Zusammentreffens des Tages. Aber steckt hinter dieser Szene mehr, als auf den ersten Blick zu erkennen ist? „Manieren machen Leute“, aber sind sie vielleicht auch ein nützliches Mittel zu Täuschung?
Was steckt wirklich hinter der Manierlichkeit der britischen Aristokratie? Vielleicht ist es an der Zeit, einen Blick hinter die Kulissen zu werfen.
Nicht alle der hier vorgestellten Charaktere sind am Esstisch anzutreffen: Während einige aufgrund ihrer geheimen, nächtlichen Affären später aufstehen, gibt es andere, deren Anwesenheit in einem solch formellen familiären Rahmen höchst unangemessen wäre. Und schließlich gilt es, den Schein zu wahren. Die künstlerische Freiheit gestattet es uns, Ihnen jene fiktiven Personen vorzustellen, die nicht anwesend sind. Sie sind jedoch nie wirklich weit entfernt … und der Duft des Skandals durchzieht mit hellem Flirren die Luft.
UND NICHTS VON DEM GESAGTEN IST WAHR.